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Ansichten aus Zürich

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Ansichten aus Zürich

Tag Archives: Buchbesprechung

Leerraum als Staatsaufgabe

03 Thursday Jan 2019

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Buchbesprechung, konservativ, Winfried Kretschmann

Winfried Kretschmanns Buch Worauf wir uns verlassen wollen schaffte es ein paarmal in die Spiegel_Bestsellerliste und steht heute (3.1.19) auf Platz 21 in der Kategorie German Politics von Amazon Deutschland. Ich habe es in einem Rutsch gelesen – etwas über zwei Stunden spannende Lektüre.

Das Buch beschreibt über eine Palette von Politikfeldern hinweg, wieso man eine moderne, freiheitliche, ökologisch-nachhaltige Politik als konservativ bezeichnen kann, und wie sich ein so verstandener Konservatismus abhebt von rechts-nationalistischem, völkischem, ausgrenzendem und rückwärtsgewandtem Denken. Die meisten der hier vertretenen Positionen sind nicht neu, aber es ist schön, sie zusammengefasst und im Kontext dargestellt zu finden, auch weil im politischen “Theater” wohl keine Partei (insbesondere auch nicht die Grünen) zu einer solchen Positionierung imstande oder bereit wäre.

Gleichzeitig hat die Ausbreitung einer solch breiten Palette auch etwas ermüdendes, weil auf den 141 Textseiten natürlich nicht jedes Thema wirklich vertieft dargestellt werden kann. Es gibt aber ein paar wirklich neue Punkte, die es wert sind, in den politischen Diskurs einzufliessen.

Das ist einmal die Verschiedenheit. Ich zitiere etwas ausführlicher: “Die Pluralität des Menschen ist die Grundlage der Politik. Nach Hannah Arendt handelt Politik ‘von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen‘. Ihr zufolge ist die Verschiedenheit der einzelnen Menschen innerhalb einer Gesellschaft sogar grösser als die relative Verschiedenheit von Völkern, Nationen oder Rassen. Diesen Gedanken muss man in seiner ganzen Radikalität erfassen. Und auch das, was daraus folgt: Unterschiede darf man nicht leugnen oder abschaffen, sondern muss sie organisieren. Das ist die Aufgabe von Politik. … Es sind Verschiedene, die sich gerade aufgrund ihrer radikalen Verschiedenheit die gleiche Würde und gleiche Rechte zubilligen. Das ist der Kern der Demokratie. Die Würde des Menschen achten heisst daher auch immer und unbedingt, ihn als individuelle Person ernst zu nehmen.” (S. 49f)

Das ist nicht nur eine schöne und grundsätzliche Zurückweisung des völkischen Gedankens, der im “Volk” eine Gemeinschaft von Gleichen sieht und Ungleiches ausscheidet, sondern es hat auch direkte Auswirkungen darauf, was demokratisches politisches Handeln ausmacht: einen bewussten Abstand zur Sache (S. 53). Das halte ich für den spannendsten Gedanken im ganzen Buch.

“Demokratische Politik kann nicht besondere Gemeinschaften und Beziehungen privilegieren, um gleichzeitig andere abzuwerten und auszugrenzen. Angesichts der Vielfalt unserer offenen Gesellschaft läge darin kein Programm des Zusammenhalts, sondern eines der noch tieferen Spaltung.
“Vor allem aber müssen Politiker sich darum bemühen, einen politischen Rahmen zu schaffen, in dem Menschen sich beheimatet fühlen können. Sie müssen Kümmerer dafür sein, dass Menschen sich im Rahmen der allgemeinen Regeln frei entfalten und jene Bindungen eingehen können, aus denen dann Zusammenhalt erwächst.” (S. 54)
“Der Staat, der freiheitlich bleiben will, kann und darf den Menschen keinen Sinn aufzwingen. Stattdessen sieht er es als seine Aufgabe, einen ‘Leerraum’ zu schaffen, der jedem Menschen ermöglicht ‘zu denken, zu glauben, zu hoffen und zu handeln, wie es ihm sein inneres Gewissen eingibt’ [Jeanne Hersch].”
(S. 56)

In dieser Aussage steckt eine fundamentale Kritik am Programm der demiurgischen Weltverbesserer und Menschenkorrigierer, das weite Teile der Politik – besonders auch der Grünen – nach wie vor beherrscht. Diese Selbstreflexion von Politikern ist leider Mangelware und verdient, hervorgehoben zu werden.

Ich glaube, das ist der Kern von Kretschmanns politischer Philosophie, und es lässt sich in dem Buch schön sehen, wie ihn diese Philosophie in etlichen Politikfeldern leitet.

Allerdings: Das Buch ist nicht in allen Teilen gleich gut. Am schwächsten fand ich den Abschnitt über die Digitalisierung. Nein, Winfried, das Land Baden-Württemberg ist nicht der Akteur, der die Digitalisierung entschlossen vorantreibt (S. 118). Die Digitalisierung wird vorangetrieben von zehntausenden junger, innovativer, hungriger, abenteuerlustiger Entwickler, Jungunternehmer und Investoren, die die gigantischen Pferdestärken immer preisgünstigerer Rechner-, Speicher- und Netzwerkressourcen entfesseln und auf immer neue Anwendungsfelder richten. Dabei lassen sie sich im Grossen und Ganzen nicht davon leiten, was gesellschaftlich und altruistisch wünschenswert wäre, sondern, “wo der Bär tanzt”, wo sie am meisten Disruption – und natürlich Gewinn machen können. Die Politik ist da eindeutig in der Rolle des Getriebenen.

Einzelne dieser Innovativen mögen sogar im Ländle sitzen; viele aber sicher in Silicon Valley, in Shenzen, in Tallinn oder weiss der Kuckuck wo. Und sie alle werden bei dem, was sie treiben, nicht auf Winfried Kretschmann hören. Deshalb fände ich es spannend, in der selben reflexiven Art, wie er das oben getan hat, über die Rolle und Aufgaben von Politik in diesem Zusammenhang zu sprechen,

  • wenn die Geschwindigkeit der Innovation von Politik gar nicht gesteuert werden kann,
  • wenn alle Aussagen über erwartete Folgen (Verlust von 70% aller Arbeitsplätze? Gar kein Verlust von Arbeitsplätzen? Versklavung aller Menschen unter Roboter? Unterstützung durch hilfreiche Roboter?) völlig unsicher und näher an Kaffeesatzleserei als an Wissenschaft sind
  • wenn Politik angesichts der Unberechenbarkeit dieser Entwicklung trotzdem die Gesellschaft auf etwaige Folgen vorbereiten soll, ohne zu wissen, worin diese im Einzelnen bestehen.

Ein Beispiel: Kretschmann fordert “eine klare Antwort auf die Frage: Wer sitzt auf dem Mensch-Maschine-Tandem vorn?” (S. 119) – Diese Frage mag man stellen. Einer von beiden wird es wohl sein. Beeinflussen wird es eine “Digitalisierungsstrategie” einer deutschen Landesregierung kaum. Das einzige, was eine lokale Regierung entscheiden kann, ist, ob sie die eigenen Leute vom Zugang zu diesen Technologien ausschliesst oder nicht. Oder – und da kriegt Kretschmann souverän die Kurve – wie man die Menschen befähigen kann, in dieser chaotischen Zeit der Veränderung am besten zu bestehen: “Im Kern geht es darum, die jungen Menschen zu befähigen, ihr Leben in der digitalen Welt frei und selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.” – Was das im Einzelnen bedeutet, darüber darf zivilisiert gestritten werden.

Aeham Ahmad, Und die Vögel werden singen

17 Saturday Mar 2018

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Aeham Ahmad, Buchbesprechung, Flüchtlinge, Syrien, Und die Vögel werden singen

Musiker sollen Musik machen und nicht Bücher schreiben. Habe ich immer gedacht.

Allerdings gibt es Ausnahmen. Aeham Ahmads Buch ‘Und die Vögel werden singen‘ ist eine.

Erstens ist es gute Unterhaltung. Es ist spannend, sehr persönlich, man taucht ein in eine Biographie, die dramatischer, tragischer, dabei auch hoffnungsvoller kaum hätte erfunden werden können. Dabei erzählt er humorvoll, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Opfer- oder Mitleidsgeste (Er hatte mit Sandra Hetzl und Ariel Hauptmeier Unterstützung durch zwei sehr gute Übersetzer/Editoren).

Zweitens – und deshalb lege ich das Buch allen besonders ans Herz – ist es ein Beitrag zu einer der drängendsten Fragen, die heute viele Menschen bewegen.

Wer sind diese Flüchtlinge, die in grosser Zahl zu uns kommen? Zu uns strömen, als Welle, Lawine, oder wie die entmenschlichenden Metaphern alle heissen? Warum kommen sie? Warum hierher, wo sie doch bleiben könnten, wo der Pfeffer wächst?

Hier kann Aeham Ahmad eine Geschichte erzählen. Seine Geschichte. Er erzählt, wie er zusammen mit seinem Vater dabei war, eine einigermassen erfolgreiche Firma aufzubauen, die den Vertrieb und die Herstellung von Musikinstrumenten mit dem Erteilen von Musikunterricht verband. Wie er seine Leidenschaft für die Musik, die ihn schon früh beherrschte, klug und pragmatisch in ein Lebensprogramm einbaute, das uns so gar nicht fremd und exotisch vorkommt. Wie er, im kulturellen Setting des damaligen Syrien, seine Frau Tahani kennen und lieben lernte – sicher würde das bei uns etwas anders verlaufen, aber er bringt uns diese Liebe so nahe, dass wir ganz dabei sind.

Er beschreibt, erst mehr im Hintergrund seiner Geschichte, wie die hohlen Phrasen der verschiedenen politischen Fraktionen, Sektierergruppen und „Befreiungsbewegungen“, die sich im Lande tummeln, von vielen nicht so ernst genommen wurden. Assads Geheimdienst allerdings wurde ernst genommen, und dagegen richteten die Menschen sich auf. Freiheit. Ahmad schildert packend und aus seiner sehr persönlichen Perspektive, wie diese Revolution durch die unvorstellbare Barbarei der Assad-Schergen auf der einen Seite, und dadurch, dass sie auf der anderen Seite von all diesen sektiererischen Befreiungsideologen gekapert wurde, völlig entgleiste und in eine Schlächterei aller gegen alle ausartete, die zu den Bildern führte, die wir nunmehr seit sieben Jahren aus Syrien im Fernsehen sehen. Und dazwischen Menschen, die längst ihre Geschäftsideen zerbombt sehen, ihre Freunde, Nachbarn und Verwandten wahllos zerfetzt und ermordet, sich von Gras und zufällig geretteten trockenen Bohnen oder sonstwas ernähren, und nur irgendwie überleben wollen.

Und dann den Weg nach draussen finden. Jedenfalls ein paar von ihnen. Und darum kämpfen, ihre Liebsten nachholen zu können, sich ein Leben im Ausland einzurichten und von Heimweh, Schuldgefühlen und Sorgen um ihre Angehörigen in der syrischen Hölle gequält werden.

Das Buch zeigt ein Einzelschicksal, und wenn man genauer hinschaut, sieht man: da ist keine Welle, keine Lawine. Hinter jedem, der hierher kommt, steht eine Geschichte. Auch hinter jedem, der es nicht schafft, der wie Ahmads Bruder Alaa vom Regime auf Nimmer-Wiedersehen verschleppt, oder wie Zeinab, das lebensfrohe singende Mädchen, sinnlos abgeknallt wurde. Jede dieser Geschichten wiegt schwer, und die wenigsten werden erzählt. Welch Glück, dass Aeham Ahmad uns seine so trefflich erzählen kann.

Leading When You’re Not the Boss

30 Wednesday Dec 2015

Posted by hajovonkracht in English

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Buchbesprechung, leadership, management, strathausen

This book presents a case for questioning, and effectively abolishing, hierarchical structures in business and moving into a “post-management area”. (The book is more than that. It is also a piece of edutainment, giving the author’s personal mix of insights and project experiences, circling around the topic of why management often is so bad. To a very limited extent it may even be read as a how-to manual for wannabe “Leaders-from-behind” – as the subtitle suggests – but I guess this was more the editor trying to widen the addressable market.)

Abolishing management might sound radical at first, but Strathausen presents good logic and reasoning, showing that “management” is a very limited paradigm, separating work execution from control, focusing the actual “workers” away from pleasing clients and toward pleasing their bosses, creating siloes, inefficiencies and stagnation, where flexibility, invention and dynamic adaptation to customer needs are really needed.

How revolutionary is this book? I am not sure. The storytelling, interwoven with the main text, features a typical matrix-type task manager (in this case a global account manager) who needs to lead people not reporting to him and pursuing clearly their own interests. The story feels real, and it shows that “situational leadership” as advocated by Strathausen, already takes place in many organizations. We are already there.

But the book does give this informal leadership a language and a reference, when in most cases today the informal leadership is hidden and treated as an exception, and the good old hierarchical organization chart is visible, seen as necessity and norm.

Maybe – depending on industry and type of work – this should actually be turned around and what are now the bosses should be seen as nothing more than an HR function. Now that would be revolutionary indeed.

To get started thinking about these questions, Strathausen’s book is a great contribution and valuable to all who want to set up and work in the agile and customer-driven business organizations of the future.

Full disclosure: I have known Roger for about 15 years, and have worked with him on various projects (I even remember some of the examples he used in the book). He is the type of thinker who can step back from a specific request to understand the full context, and he is the type of worker to then dig deep into the task at hand and craft results guided by his insights.

324 Minuten für die Granulare Gesellschaft

25 Friday Dec 2015

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Buchbesprechung, granulare Gesellschaft, Kucklick

Genau so viel Zeit (5 Stunden, 24 Minuten) veranschlagt meine Kindle App für das Lesen von Christoph Kucklicks gleichnamigem Buch. Ich habe es nicht nachgemessen und bin so dem Muster gefolgt, das Kucklick für typisch erklärt: immer granularer, feiner wird die Wirklichkeit aufgelöst, Vorhersagen werden gemacht, Verhalten wird berechnet – von Maschinen. Immer weniger sind wir Menschen fähig, den Maschinen Paroli zu bieten.

Gleich vorweg: das Buch ist absolut lesenswert; Kucklick zeigt an einer Fülle von Beispielen, wie sich unter unserer von Big Data befeuerten Sicht die Verhältnisse auflösen, verändern, neu zusammensetzen. Alte sozialwissenschaftliche „Gesetze“, die in Wahrheit statistische Korrelationen auf einer bestimmten durchschnittlichen Aggregats-Stufe sind, zerbröseln, wenn man gleichzeitig jedes Individuum einzeln im Detail analysieren kann. Im politischen Bereich beispielsweise analysiert er die Auswirkungen der Feinauflösung der Wählerschaft in Obamas letztem Wahlkampf, wo ganz gezielt und mit hohem Aufwand genau die Individuen angesprochen wurden, die gerade noch als Wähler zu gewinnen waren, und zwar mit individuell auf sie zugeschnittenen Botschaften. Interessant ist auch der historische Vergleich zu den katastrophalen Folgen der Erfindung des Buchdrucks, als neue Sichtweisen und Debatten die dafür nicht vorbereiteten Gesellschaften trafen.

Trotzdem bin ich nicht zufrieden mit den Schlussfolgerungen des Buches, weil es meiner Meinung nach einige Fragen falsch stellt. Über weite Strecken kämpft sich Kucklich nämlich mit der Frage ab, wie der Mensch angesichts immer perfekterer Maschinen seine Einmaligkeit behaupten kann. Dabei sieht er als Rückzugsgebiete etwa die Irritierbarkeit, das Spielerische, das Empathische.

Aus meiner Sicht begeht Kucklick den selben Fehler wie viele andere Warner vor den digitalen Maschinen: Antropomorphe Projektion. Dies ist ein Mechanismus, den die Menschen angewandt haben, seit sie in den Naturkräften Naturgötter – im Blitz den Zeus – gesehen haben. Ich will das an einigen Beispielen erläutern.

Man könnte sich angesichts der Erfindung des Fernrohrs fragen, wo das menschliche Auge im Wettkampf mit dem Fernrohr bleibt, und Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Auges äussern. „Das menschliche Auge hat den Wettkampf mit dem Fernrohr verloren; das Fernrohr sieht 100mal schärfer als das Auge.“ – Was natürlich Unsinn ist. Das Fernrohr ist ein Werkzeig; es sieht überhaupt nichts. Das menschliche Auge sieht mit Fernrohr 100mal schärfer als ohne. So wird ein Schuh draus.

Aber ist diese einfache Logik noch gültig angesichts autonom agierender Roboter? Ich möchte zunächst einen extrem einfachen Fall einer autonomen Maschine diskutieren: ein guter alter mechanischer Wecker. Ein Mensch zieht ihn auf und stellt ihn, damit er ihn am Morgen weckt. Dabei vergisst er, dass morgen Sonntag ist und er eigentlich ausschlafen könnte. Pünktlich früh um sechs rasselt der Wecker auf dem Nachttisch und der Mensch, der nicht mehr an den Wecker gedacht hat, schmeisst ihn voller Wut an die Wand. Sofern der Mensch nicht auf sich selbst wütend ist, sondern auf den Wecker, macht er den Fehler der anthropomorphen Projektion. (Es kann natürlich auch der Fall eintreten, dass der Wecker einen Defekt hat, aber auch dann ist Wut auf den Wecker eine ziemlich alberne Emotion).

Vor langer Zeit gab es ein legendäres Buch über Zen and the Art of Motorcycle Maintenance, in dem der Autor Robert M. Pirsig sehr schön beschrieb, wie sinnlos wir unsere Emotionen auf Gegenstände richten, selbst wenn wir wissen, dass diese als Empfänger unserer Emotionen gar nicht existieren. Wenn das Motorrad stottert, hilft es nichts, es anzuschreien, sondern ich muss die Ursache beheben.

Gilt diese Logik noch angesichts der heutigen autonomen Maschinen? Kucklick beschreibt im Detail, wie in Spielhallen (etwa in Las Vegas) mit Hilfe raffiniertester Computerprogramme die Kunden optimal „gemolken“ werden, und die Menschen sich den so geschaffenen Verführungen kaum erwehren können. Hier ist aber der Fall ganz einfach: Nicht raffinierte Computerprogramme „melken“ Menschen, sondern Menschen (die Betreiber der Spielhallen und ihre beauftragten Computerspezialisten) „melken“ Menschen mit Hilfe von raffinierten Computerprogrammen. Indem ich die computergesteuerten Spielkonsolen anthropomorph auflade, verschliesse ich die Augen davor, was wirklich abgeht: Menschen können andere Menschen besser mit als ohne digitale Maschinen beeinflussen.

Ähnlich mit autonom agierenden Kampfdrohnen: Wenn eine solche Drohne versehentlich ein Krankenhaus samt Ärzten und Patienten ausradiert, wer ist hier am Werke, und wer ist verantwortlich? Die Drohne zum rechtsfähigen Subjekt zu erklären, ist ganz abwegig und lenkt davon ab, dass die Menschen, die die Drohne gebaut, programmiert und eingesetzt haben, die Verantwortung tragen. Auch die Drohne ist nur ein Werkzeug.

Die anthropomorphe Projektion ist auch die Basis für ein beliebtes Spiel, an dem sich auch Kucklick beteiligt: „Computer werden niemals können …“ – Wobei die Dinge, die in Ergänzung dieses Satzes genannt wurden – wie er schön zeigt – eine nach der anderen widerlegt wurden. Kucklich führt dieses Spiel dann zu Themen wie Empathie. Erschreckend ist das immer weitere Vordringen der Computer aber nur, wenn wir sie in ontologischer Verirrung als Subjekte betrachten. In Wahrheit sind Computer nichts als mechanische Implementationen von Modellen. Sobald der Mensch eine Theorie in einem Bereich aufstellen kann, die so ausgereift ist, dass sie in ein Modell gegossen werden kann, kann dieses Modell auch programmiert werden. Die zunehmenden Fähigkeiten von Computern sind nichts anderes als die Fortschritte in der Fähigkeit von Menschen, theoriegeleitete Modelle aufzustellen. Trivial: Mit Computern können Menschen schneller Berechnungen vornehmen als mit Bleistift und Papier, so wie es mit Bleistift und Papier besser geht, als nur im Kopf.

Was allerdings neu ist, ist, dass Menschen über immer mächtigere Werkzeuge verfügen, die sie zum Nutzen und zum Schaden anderer Menschen einsetzen können. Werkzeuge, die zeitlich und räumlich versetzt, unter indirekter Kontrolle von Algorithmen arbeiten, so gut wie gar nicht mehr für Dritte transparent sind, und dabei natürlich Fehler auftreten können.

Die gesellschaftliche Kontrolle solcher Werkzeuge ist derzeit nicht gegeben.

Sven Kuntze und das Altern

30 Wednesday Sep 2015

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Altern wie ein Gentleman, Buchbesprechung, Sven Kuntze

Sven war Genosse in Tübingen, ein paar Jahre älter als ich (genauer gesagt, neun Jahre, aber das war mir damals egal). Ich selbst wurde als Gymnasiast in die späte Phase der 68er Bewegung gezogen, als der antiautoritäre, rebellische und individualistische Geist der frühen Zeit mehr und mehr durch dogmatische marxistische Ideologie ersetzt wurde, und leninistische, trotzkistische, maoistische, stalinistische und andere bizarre Varianten von Dogmatik, Rechthaberei und Sektierertum Einzug hielten. Als ich Sven begegnete auf Teach-ins, AStA Kongressen, Vollversammlungen, war er zweifellos genauso linksradikal wie ich. Aber da er, anders als ich, aktiv teilgenommen hatte, als sich die Radikalität der 68er aus viel breiteren Strömungen von philosophischen, soziologischen, psychoanalytischen – und auch politischen Wurzeln entwickelte, war für mich schon damals spürbar, dass er aus reicheren Quellen schöpfte als ich, der hauptsächlich theoretisch nachvollzog, was andere vorgedacht hatten.

Politik war damals mein Leben, und ausserhalb der zahllosen öffentlichen und konspirativen Veranstaltungen und Aktionen, die damals unsere Tage füllten, hatte ich keinen Kontakt mit Sven, aber er war eine vertraute Gestalt, freundlich, zugetan und ich hatte das Gefühl, dass ich ihn jederzeit um Rat fragen konnte. Was ich natürlich nie tat.

Später mussten wir uns alle, jeder für sich, aus dem Verlies linksradikaler Dogmatik wieder herausarbeiten. Schrittweise, über Jahre, und immer wieder über Brüche, in denen wir unsere eigenen Wege gingen und alte Zusammenhänge aufgaben. So habe ich den Kontakt zu Sven verloren.

Jahre später wurde er mir eine vertraute Gestalt im Fernsehen, und jedesmal freute ich mich: Mensch, das ist doch Sven, den kennst du doch! – Er enttäuschte mich nicht. Er war charmant, leicht ironisch, gut aussehend, und er machte ausgezeichneten Journalismus. Ich dachte höchstens: Schade, dass man den Kontakt zu interessanten und angenehmen Menschen so dumm verliert, weil man ihn nie gepflegt hat.

Ich gestehe, ich habe es gar nicht mitbekommen, als er seine aktive Laufbahn beendete, und eines Tages sah ich ihn wieder auf dem Bildschirm in einer Talkshow, diesmal als Gast – eine Gesichtshälfte vollständig gelähmt. Ein schrecklicher Anblick.

Ich war so erschüttert, dass ich keinerlei Erinnerung daran habe, worum es in der Sendung ging. Das kann man natürlich heute im Internet nachlesen. Aber in dem Moment folgte ich der ganzen Sendung nur, um Sven anzuschauen, dem der Auftritt offenbar so wichtig war, dass er dafür in Kauf nahm, sich so entstellt zu zeigen, wie er war. Es war ihm sichtlich unangenehm; immer wieder drehte er die “gute” Gesichtshälfte zur Kamera, und mit einem Tüchlein bedeckte er den einseitig gelähmten Mund.

Jetzt habe ich sein Buch gelesen – Altern wie ein Gentleman. Abgesehen davon, dass der Titel etwas schräg neben dem Buch steht – hier vermute ich den Verlag am Werk, denn der Begriff “Gentleman” taucht sonst im Buch überhaupt nicht auf – ist es eine gut recherchierte, schön geschriebene Studie über die Besonderheiten der ins Alter kommenden “baby boomer” Generation, die Sven Kuntze die “vierziger” nennt.

Gleichzeitig ist das Buch auch sehr persönlich. Er selbst gehört zu dieser Generation, und er beschreibt, wie er sich der Herausforderung des Alters stellt.

Dass dieses Buch beide Perspektiven verbindet – die objektive des wissenschaftlichen Beobachters, der wahre Aussagen macht über eine Population, und die subjektive, die um Fragen ringt, deren Zielpunkt der eigene Tod ist – macht das Buch gleichzeitig interessant und problematisch.

Denn während die objektive Perspektive einer Wahrheit verpflichtet ist, die letztlich auf Statistik ruht, für den Einzelnen aber vielleicht ganz anders aussieht (“die 40er Generation hat den Generationenvertrag aufgekündigt”), ringt die subjektive mit dem Anspruch auf persönliche Ehrlichkeit. Man kann Sven Kuntze abnehmen, dass er beides sehr ernst nimmt. So hat er das Leben in Altenpflegeheimen so intensiv recherchiert, wie er sich mit dem Moment seines eigenen Ausscheidens aus dem Arbeitsalltag auseinander gesetzt hat. Beides habe ich noch vor mir und habe – nicht nur deshalb – Svens Ausführungen mit grossem Interesse gelesen.

Aber hier laufen die Dinge auseinander. Sven meint in dem Buch – das er vor der Operation schrieb, die sein Leben gerettet, aber sein Gesicht zerstört hat – dem Altern quasi als idealtypischer Vertreter seiner Generation entgegenzusehen. “Wir wissen, dass der Körper langsam entkräftet.”

Statistisch und insgesamt ist das die Wahrheit. Aber ich neige zu der Auffassung, dass die wirklich bösen und verderblichen Keulenschläge des Schicksals immer aus einer Richtung kommen, wo wir sie nicht erwarten und uns deshalb schwer wappnen können. Und dass der Weg nach unten in vielen Fällen weniger einer geneigten geraden Linie ähnelt als einer Treppe mit unregelmässig breiten und tiefen Stufen, von denen uns jede auf unterschiedlichste Art, aber immer unvorbereitet trifft.

Gerade weil ich Svens Buch die Ernsthaftigkeit abnehme, mit der er sich seinem Altern stellt, geht es mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf und ich schreibe hier ganz unsinnig lange Texte darüber. Das ist doch schon mal etwas. Lieber würde ich mich mit ihm darüber unterhalten.

Intelligent Wachsen von Ralf Fücks

06 Thursday Aug 2015

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Buchbesprechung, Intelligent Wachsen, Ralf Fücks

Ich habe mir abgewöhnt, Politiker-Bücher zu lesen. Und doch: um ein Politiker-Buch handelt es sich hier. Das ist kein Vorwurf. Ralf Fücks, ehemaliger Vorsitzender der Grünen, ist ein engagierter streitbarer erfolgreicher Politiker, und er hat etwas zu sagen. Das Buch Intelligent Wachsen besetzt eine Leerstelle: Nach einer Flut fundamentaler Texte in der Frühphase der Ökologiebewegung, die auch mein damaliges Denken geprägt haben, ist es ruhig geworden an der Welterklärungsfront. Das hat zweifellos sein Gutes, denn Ideologie verschleiert die Sicht auf die Dinge; andererseits erscheint die politische Bühne heute orientierungsloser; Entscheidungen werden ad hoc getroffen; ein großes Ziel ist nicht in Sicht.

In dieser Lage eine Gesamtschau zu bieten mit Fokus auf die großen Linien der Politik ist ein anspruchsvolles, auch riskantes Unterfangen, und lesenswert.

Das Buch, so verspricht Fücks, “skizziert Wege in eine ökologische Moderne, deren Konturen sich heute bereits abzeichnen. Und es vertraut darauf, dass die Selbstgefährdung unserer Zivilisation mit den Mitteln der Moderne überwunden werden kann: Wissenschaft, Technologie, Demokratie.“

Dies ist ein großer Anspruch, und um sich nicht in der Breite zu verlieren, setzt der Text einige Punkte voraus, ohne sich damit weiter aufzuhalten:

  • Der Klimawandel droht, und er ist die “Mutter aller Krisen” (S.35) mit gravierenden Folgen; um ihn und seine Vermeidung dreht sich fast das ganze Buch.
  • Der Klimawandel ist vom Menschen – genauer vom CO2 Ausstoß verursacht.
  • Um den CO2 Ausstoß herunterzufahren, ist der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern Kohle, Öl, Gas zwingend.
  • Erneuerbare Energien – nicht Atomkraft – müssen an ihre Stelle treten.

Wer diese Prämissen nicht teilt, wird sich von dem Buch nicht angesprochen fühlen. (Aus Schweizer Perspektive interessant ist der letzte Punkt, wo die bürgerlich-liberalen zwar dem CO2 Reduktionsziel halbherzig zustimmen, aber Atomkraft für ein probates Instrument halten, dies zu erreichen.)

Stattdessen setzt sich Fücks ausführlich auseinander mit dem Argument, dass nur Wachstums- und Konsumverzicht die Menschheit vor dem Kollaps der Ökosysteme bewahren könne. Das sind die Positionen des Club of Rome und anderer Warner aus den Siebziger Jahren, die ich damals auch alle verschlungen habe, und deren Prognosen sich als falsch herausgestellt haben.

Ganz eingeleuchtet hat mir Konsumverzicht als politische Handlungsmaxime schon damals nicht (die individuelle Entscheidung dazu ist selbstverständlich respektabel, genau wie etwa die, Einsiedler zu werden oder einem Kloster beizutreten); als politisches Programm für eine Partei war “degrowth” schon immer, wie von Fücks treffend beschrieben, illiberal, autoritär und unerfreulich. Was ich nicht nachvollziehen kann – sicher bin ich da zu weit weg von den deutschen innergrünen Verwerfungen – welche Bedeutung solche Positionen heute im politischen Raum (noch) haben; die meisten der im Buch zitierten Quellen der Wachstumsgegner (Bahro, Meadows u.a.) machen auf mich einen etwas angestaubten Eindruck.

Ein großer Teil des Buches zeigt auf, wo bereits heute auf verschiedenen Feldern – Ökonomie, Städtebau, Landwirtschaft, Energieerzeugung – eine Abkehr von der fossilen Ökonomie stattfindet. Das ist sehr breit, enzyklopädisch angelegt, und höchstens dadurch im Wert etwas relativiert, dass die reale Entwicklung in der von Fücks gezeigten Richtung (und seine Position bestätigend) seit Herausgabe des Buches 2013 mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten ist. Seine zentrale These jedenfalls, dass nur Erfindungsgeist und Innovation uns aus der Klimafalle befreien können, dass dafür Investitionen stattfinden müssen, und diese ohne Wachstum nicht passieren werden, ist klar und – jedenfalls für mich – unstrittig.

Allerdings bin ich bei der Lektüre immer wieder darüber gestolpert, dass Fücks von einer Beschreibung dessen, was passiert, in eine subjektlose normative Sprache übergleitet. Nicht dies, sondern jenes steht zur Debatte, es kommt darauf an, es geht darum, dies und jenes steht auf der Tagesordnung. Und ich frage mich: auf wessen Tagesordnung? Auf meiner? Auf der von Ralf? Oder doch auf der des objektiven Weltgeists Hegelscher Prägung?

Ein Beispiel (in dem es grammatikalisch sogar ein Subjekt gibt): “Wir müssen die Gesellschaften, die sich im Aufbruch in die Moderne befinden, dabei unterstützen, das fossile Zeitalter möglichst zu überspringen.” – Ein guter Gedanke. Nur: wer ist “wir”? Was heißt “müssen”?

Die Aussage bekäme Sinn als Parteiprogramm, mit einem impliziten Subjekt. (Eher amüsant, dass sich in dem 2013 herausgegebenen Buch die Empfehlung findet, “die im Herbst 2012 neu gewählte Bundesregierung” solle Nachhaltigkeit “zu einem Eckpunkt ihres Regierungsprogramms machen“.) Hinter der Unschärfe des handelnden Subjekts steht ein zweites Problem: Wer treibt die von Fücks skizzierten Innovationen? Was davon ist Ergebnis von Politik, was von unternehmerischen Entscheidungen? Was geschieht “sowieso”? Im Buch taucht ein abendländisches Gesamtsubjekt auf, das mir der Allmachts-Illusion des politischen Machers entsprungen scheint. Ein Politikerbuch halt.

In Wahrheit werden solche Dinge – mit Michael Merkels Worten – “in einem chaotischen Zusammenspiel verschiedenster Akteure, Philosophen, Techniker, Unternehmer, Priester, Journalisten usw.” entschieden. Welche Rolle Politik hier überhaupt spielen kann, ist spannend und wird in Ralf Fücks’ Buch nicht behandelt.

Noch etwas anderes halte ich für bedenklich. Ich weiss, man soll ein Buch nicht dafür kritisieren, dass es nicht ein anderes Buch ist. Das Thema dieses Buches ist eindeutig, wie bei wirtschaftlichem Wachstum (besser als in einer wachstumslosen Ökonomie) der Klimawandel verhindert werden kann. Im Vorwort allerdings wirft er das Netz deutlich weiter. Dort spricht Fücks sehr allgemein von der “Selbstgefährdung der Moderne”.

Ist der Klimawandel wirklich die “Mutter aller Krisen”? So sehr ich die Dringlichkeit sehe, dagegen vorzugehen, scheint er mir doch ein Problem nach einem bekannten Muster – wer erinnert sich noch an Waldsterben, Ozonloch und andere? Ich neige dazu, wie die Mathematiker zu sagen: Wenn ein Problem lösbar ist, erlischt der intellektuelle Reiz. Selbst wenn noch viel zu tun ist (und ja, wie von Fücks gezeigt, auch allerorten geschieht).

Es gibt aber noch ganz andere Herausforderungen, die teilweise heimtückischer sind und unsere Zivilisation von innen heraus infrage stellen – zum Beispiel das Verschwinden der Privatsphäre durch die digitale Durchdringung aller Lebensbereiche (NSA ist da nur ein Symptom), antimoderne religiöse und nationale Aufladung aller Diskurse im Zuge von Globalisierung, Völkerwanderungen, Gefährdung von Freiheit an vielen Fronten. Wenn es um die Selbstgefährdung der Moderne geht, ist der ausschliessliche Fokus auf den Klimawandel ein wenig eng.

Freisinniger Verfall

15 Monday Jun 2015

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Blocher, Buchbesprechung, FDP, Freisinnige

Bei den letzten kantonalen Wahlen erlebte eine Partei einen Aufwärtstrend, die jahrelang nur einen Weg kannte: nach unten. Gleichzeitig fällt auf, dass in vielen Fällen, zum Beispiel der jüngsten Abstimmung über die Abschaffung der Härtefallkommission in Zürich, die Freisinnigen – von ihnen ist die Rede – derart eng verschweisst sind mit den illiberalen Populisten der SVP, dass man sich fragt, was der Begriff “Freisinn” heute überhaupt bedeutet.

Der Fall FDPAls Neubürger, der die Parteien­geschichte der Schweiz eher oberflächlich und von aussen verfolgt hat, habe ich mit grossem Interesse Der Fall FDP gelesen: Eine Darstellung der Partei von ihrem staatstragenden Zenit in den 70ern bis zu ihrem heutigen Dasein als Juniorpartner der SVP. Flott und sehr gut lesbar geschrieben, erzählen Alan Cassidy und Philipp Loser von den Verwerfungen um das Verhältnis zur EU, dem Bankenfilz, und wie es geschah, dass die FDP stückweise an Bedeutung verlor, von der Partei schrumpfte zu einer von vielen. In keiner zentralen Frage der Politik ist sie heute meinungsführend.

Während in Deutschland nach 1945 die CDU zu der Partei wurde (und in Bayern die CSU diesen Part bis auf den heutigen Tag spielt), fiel diese Rolle in der Schweiz – schon früher – der FDP zu. Anders als in Deutschland waren die Kirchen in der Politik weniger dominant. Aber die Rezeptur war vergleichbar: Eine Prise Programmatik, darunter das was wirklich zählt: die Lenkung des Gemeinwesens durch Parlamente, Wirtschaft, Verbände, Presseorgane – alles kontrolliert von denselben gut vernetzten Akteuren, durch die normative Kraft des Faktischen. Durch die Begrenztheit der Schweiz war dieses Geflecht noch enger und exklusiver als selbst der Klüngel in der Adenauerzeit in Deutschland.

Insofern sind die deutsche und die Schweizer FDP, auch bei teilweise ähnlicher Programmatik, grundverschieden. Was der Schweizer FDP, wenn man dem Buch von Cassidy und Loser folgt, zum Verhängnis wurde, war, dass sie sich darauf besann, ihre eigene freiheitliche, staatsabgeneigte Programmatik ernst zu nehmen. Das ist für eine Staatspartei ein gefährliches Unterfangen und führte die FDP auf eine abschüssige Bahn, von der sie – vorangetrieben vom Angstgegner Blocher – nie wieder herunter kam.

Das Buch ist informativ, die 210 Seiten lesen sich flott. Wenn es etwas auszusetzen gibt, dann vielleicht, dass es ein typisches Journalistenbuch ist. Es erzählt, wer in der FDP wann wo was gesagt und getan hat. Ideengeschichtlich ist es für mich etwas mager. Ich hätte gern genaueres darüber erfahren, welche Ideen verfingen, welche Argumente überzeugten, und welche nicht. Und auch der Austausch der Meinungen jenseits der FDP fällt – ausser dass Blocher immer wieder als der grosse Gegner gezeichnet wird – hinten runter. Aber sonst wäre das Buch vielleicht überladen, und ich hätte es nicht an einem Wochenende lesen können.

Die Kehrseite des Himmels

18 Monday May 2015

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Buchbesprechung, ulitzkaja

Leider konnte ich am 8. Mai nicht in Berlin sein. An diesem Tag las Ljudmila Ulitzkaja im Literarischen Colloquium Berlin aus ihrem neuen Buch “Die Kehrseite des Himmels”. Es gibt bereits einige ausführliche und lesenswerte Rezensionen dazu, unter anderem bei Titel-Thesen-Temperamente (22.02.), in der Berliner Zeitung (15.05.), der Badischen Zeitung (15. 05.) oder der NZZ (09.04.). Das Buch stand im März auf der SPIEGEL Bestsellerliste.

Was genau ist mit “Kehrseite des Himmels” eigentlich gemeint? Die Hölle? Meint Ulitzkaja, Russland sei die Hölle und möchte das nicht so deutlich sagen? Einige Kommentatoren, die das Buch strikt als Oppositions-Literatur inter­pretieren, machen entsprechende Andeutungen. СВЯЩеННЫЙ МУсорAber schauen wir genauer hin. Im Original heisst das Buch “свяще́нный му́сор”. Ich spreche nicht russisch, aber dank Google und Leo lese ich “heiliger Müll”. Ich komme darauf zurück.

Das Buch ist eine Sammlung von 33 Texten (einer davon – die Ausein­andersetzung mit ihrer Krebserkrankung besteht wiederum aus 7 Einzeltexten). Einige sind datiert. Der älteste ist von 1991. Nur einzelne Texte setzen sich mit der Politik Putins direkt auseinander – vor allem eine Rede, die sie 2014 in Salzburg bei der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur erhalten hat (die eindrucksvolle Rede gibt es online).

Das Buch ist nicht zu trennen von den heutigen Verhältnissen in Russland, die uns westlichen Europäern als “System Putin” entgegentreten: aggressiv nach aussen, repressiv nach innen, weg von Europa. Keine Frage: Ulitzkaja kritisiert dieses System scharf und schonungslos.

Trotzdem ist das Buch – und ist die Autorin – nicht in plattem Sinne “politisch”. Gleich der erste Text gibt Aufschluss über den Titel des Buches: “Heiliger Kram”. Hierin beschreibt Ulitzkaja liebevoll, wie sie über Jahre in einem Karton sammelte, wovon sie sich schwer trennen konnte: Bruchstücke, Nippes, Erinnerungsfetzen. Und wie sie diesen Karton irgendwann auf den Müll schmiss. – “Ich kann offenbar nichts wegwerfen. Das Bewusstsein hält an dem Plunder aus Glas, Metall, Erfahrungen und Gedanken, Wissen und Ahnungen hartnäckig fest. Was dabei wichtig und bedeutend ist und was ein Nebenprodukt der menschlichen Existenz, weiss ich nicht. Zumal der ‘Misthaufen’ mitunter wertvoller ist als die ‘Perle’.”

Ich kann ja verstehen, dass der Hanser-Verlag den Titel “Heiliger Kram” nicht genügend verkaufsfördernd fand und nach etwas anderem Aussschau hielt. Andrej Krasulin, Landschaft, 2003Er wurde fündig in einem Text, in dem Ulitzkaja über ihren Ehemann Andrej Krassulin schreibt. Er ist Maler und Bildhauer. – “Andrejs Arbeiten der letzten Jahre sind monochrome Räume, erfüllt mit einem erregenden, aber nicht in Worte zu fassenden Gehalt, sie sind jener Ort der Betrachtung, des Schweigens und der Stille, nach dem wir uns in der erdrückenden Stadt sehnen, wenn wir atemlos herumhetzen und dabei fast zusammenbrechen. Ich schaue sie mir an und suche nach Worten: Die Kehrseite des Himmels? Das Tor zum Jenseits? Der Tod der Koordinaten? – Ein dummes Unterfangen”.

Immer wieder tauchen in ihren Texten religiöse Motive auf. Mit zwei jüdischen Grossvätern, christlich getauft, freier Geist, tut sie sich mit diesem Thema nicht leicht. “Ich habe einen schlechten Charakter, keine seriöse Kirche würde mich behalten. Vor kurzem ist mir klar geworden, was ich bin: eine Freiwillige im Christentum. Das heisst, sobald mir etwas nicht passt, verziehe ich das Gesicht und gehe. Und dann, wenn ich mich zurücksehne nach dem Kostbaren darin, klopfe ich wieder an und sage: Hier bin ich, ich will die Brosamen unter eurem Tisch aufsammeln.”

Obwohl aus dem Zusammenhang gerissen, charakterisiert “Kehrseite des Himmels” Ulitzkajas Werk nicht schlecht, und ich würde es eher so interpretieren, dass wir die Rückseite des Himmels sehen, weil er sich von uns abgewandt hat und wir unsere Probleme alleine lösen müssen. – “Heilige gibt es genug auf der Welt … doch es gibt zu wenige Gerechte, Menschen, die den Regeln folgen, anständige, barmherzige Menschen, die frei sind von Habsucht und Grausamkeit“.

Ulitzkajas Texte durchströmt grosse Zuneigung zu den konkreten Menschen und Dingen, über die sie schreibt. Und Traurigkeit, wenn sie ihr geschundenes Land beschreibt, für das sie sich mehr als einmal schämt. Aber sie verurteilt selten. Sie verrät in diesem Buch viel über sich selbst, witziges und intimes, wichtiges und unwichtiges. Diese Dinge nicht auseinander zu halten, ist Teil ihrer schriftstellerischen Methode. Auch diese beschreibt sie. – “Die Literatur erforscht mit künstlerischen Mitteln die Verflechtungen zwischen Mensch und Welt.” Die Lektüre Pasternaks hat sie überzeugt, “dass die Welt aus hauchdünnen Fäden gewebt ist, dass jedes lebende Wesen tausend Valenzen hat, die es mit seiner Umwelt und mit anderen Wesen verknüpfen. … Du berührst einen beliebigen Faden, und er führt dich in die Tiefe des Musters, durch Leidenschaft, Schmerz, Leiden und Liebe.”

Das ist der Unterschied zwischen grossen Literaten einerseits und politischen oder journalistischen Schreiberlingen wie mir andererseits: Wir verraten die Gegenstände, über die wir schreiben, weil wir zu Ergebnissen kommen wollen. Ulitzkaja sagt ausdrücklich: “Eine Erzählung, ein Roman oder ein Poem liefern nie einen Beweis oder eine Beweiskette für einen Gedanken oder eine Hypothese.”

Am Schluss des Textes “Der Mensch und seine Verbindungen” folgert sie: “Der Reichtum eines einzelnen Menschenlebens hängt davon ab, wie viele Fäden dieser Mensch festhalten kann. Die gesamte menschliche Kultur ist nichts anderes als ein gigantisches Geflecht aus Myriaden von Fäden, in dem genau so viele bewahrt werden, wie du selbst festhalten kannst.“

Frauen in Unternehmen: Umerziehung oder Entfalten der eigenen Fähigkeiten?

17 Saturday Jan 2015

Posted by hajovonkracht in deutsch

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ökolibertär, Buchbesprechung, umerziehung

Schon 1987 hat Gisela Erler mit ihrem Schluss mit der Umerziehung Müttermanifest mutig und erfrischend anders über die Geschlechterfrage nachgedacht. In ihrem Buch von 2012 stellt sie fest, dass – nach vielen Jahren Frauenbewegung und Gleich­stellungs­massnahmen – Frauen in der Unternehmenswelt immer noch nicht “oben angekommen” sind. Sie fragt sich, woran das liegt, und was man da tun kann, oder – mit ihren Worten – “warum die vielen Bemühungen der globalen Wirtschaft, Frauen in wirkliche Führungspositionen zu befördern, so hartnäckig und gründlich scheitern und welche Strategien vielleicht erfolgreicher sein könnten.”

Ihre Hauptthesen sind, dass erstens Männer und Frauen sich in ihrer Art, mit Situationen und Problemen umzugehen, tiefgreifender unterscheiden, als mit manchen egalitären (vor allem feministischen) Theorien vereinbar ist, dass zweitens soziale Institutionen optimiert sind auf die Kompetenzen des einen oder anderen Geschlechts, und dass man drittens – nachdem man die unterschiedlichen Bedürfnisse gut genug verstanden hat – nicht die Menschen den Institutionen anpassen soll, sondern die Institutionen den Menschen.

Das Buch ist schon deshalb lesenswert, weil es sehr persönlich und lebendig die Erfahrungen der Autorin mit dem von ihr aufgebauten, und von Frauen geführten PME Familienservice schildert; allein das ist schon eine beachtliche Lebensleistung. Gisela Erler präsentiert die beeindruckende Erfolgsgeschichte dieses Unternehmens als beispielhaft dafür, wie Frauen (erfolgreich) beruflich agieren können, und auch wie Leitungs- und Entscheidungsstrukturen unter weiblicher Regie funktionieren (oder nicht). Das ist hochinteressant zu lesen, auch wenn ich nicht sicher bin, wie weit man das als allgemein gültige Erkenntnisse über Frauen-Unternehmen lesen kann, oder nicht doch eher als die eines erfolgreichen Gisela-Erler-Unternehmens. Sie scheint die “business rules” dieser Organisation nachhaltig persönlich geprägt zu haben.

Nun zu ihren Thesen.

Der nicht ganz so kleine Unterschied: Angeboren oder erworben?

Mit etlichen Studien belegt Gisela Erler, dass Knaben und Mädchen schon von Geburt an alles andere als gleich sind, wenngleich es nicht immer einfach ist, zu sagen, worin genau die Unterschiede jenseits der körperlichen bestehen. Unbestritten und offenbar vererbt ist etwa die unterschiedliche Grösse, auch wenn diese durch Umwelt­faktoren (Er­nährung usw.) beeinflusst wird. Aber nicht nur sichtbare und leicht messbare körperliche Unterschiede bestehen, sondern auch solche der Art, Probleme anzugehen, sich einzubringen, in Teams erfolgreich zu sein. Hier betritt Gisela Erler ein seit Jahrzehnten heiss umkämpftes Terrain. Es gibt – wohl dokumentiert und seit Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus auch wild popularisiert – typisch männliche und weibliche Lebens-Strategien. In der Schule führen diese unterschiedlichen Strategien dazu, dass Knaben öfter scheitern, im Berufsleben dazu, dass Frauen weniger Erfolg haben – trotz Umerziehung, Förderung, Coaching, Gleichstellung.

Gisela Erler stellt fest, dies habe nichts damit zu tun, dass mentale Fähigkeiten verschieden ausgeprägt sind – dass also die einen dümmer sind als die anderen – sondern dass die unterschiedlichen Strategien die Herangehensweise betreffen, wie Männer respektive Frauen mit Wettbewerbssituationen, Hierarchie, deduktivem vs. induktivem Schliessen usw. umgehen. Das ist alles unbestreitbar. Die Frage ist: kann und soll man das ändern?

Traditionell stossen hier zwei Denkschulen aufeinander: die einen sagen: diese Unterschiede sind anerzogen, deshalb können sie auch umerzogen werden. Gisela Erler berichtet von solchen Versuchen und ihrem wiederholten Scheitern. Die andere Denkschule sagt: Umerziehung ist zwecklos, denn die unterschiedlichen Dispositionen der Geschlechter sind angeboren, oder wie man heute sagt: genetisch bedingt.

Umerziehung ist Gisela Erlers Sache aus guten Gründen nicht. “Die Schaffung des neuen Menschen von oben oder von außen kann nicht Ausgangspunkt von Politik sein”, und sie stellt kritisch fest: “Während heute der pädagogische Grundsatz, Kinder in ihren erkennbaren Talenten zu bestärken und zu fördern, relativ unbestritten ist, scheint auf dem Feld der Geschlechterrollen genau die umgekehrte Maxime zu gelten: Wehret den Anfängen!”

Weil sie gegen die Umerziehung ist, stellt sich Gisela Erler auf die Seite derer, die eine genetische Basis für die unterschiedlichen Gender-Lebensstrategien annehmen. Damit schwächt sie meiner Meinung nach ihre Position. Denn im Fall der Menschen ist die biologische und die kulturelle Identität unentwirrbar vermengt. Oder, wie Albrecht Lamparter in unserem alten ökolibertären Club vor vielen Jahren prägnant formuliert hat: Die Natur des Menschen ist die Kultur. Damit meine ich, Kultur prägt den Menschen viel tiefgreifender als ein paar Umerziehungs-Sitzungen im Kinderladen oder Umschulungen, Coachings usw. je aufheben können. Kultur wird nicht anerzogen sondern aufgesogen. Versuche verschiedener Despoten, Neugeborene ohne Kontakt zu Mitmenschen aufwachsen zu lassen, um den “natürlichen” Menschen zu studieren, endeten mit dem Tod der armen Kreaturen. Die These “weil kulturell erworben, deshalb umerziehbar” verkennt die kulturellen Tiefenschichten, die uns formen – und die sich auch mit der Zeit verändern – die aber willkürlichen Umerziehungsmassnahmen ganz verschlossen sind.

Gleichwertig, nicht gleichartig

Mit vielen Beispielen belegt Gisela Erler, wie die Institutionen Schule und Unternehmen heute die typischen Eigenschaften von Männern und Frauen bewerten. Ganz platt: Heisst es in der Schule, es wäre besser, die Jungen wären wie die Mädchen, gilt im Berufsleben, es wäre besser, die Frauen wären wie die Männer. Und dann wird umerzogen. Mit dem Ergebnis, dass die jeweiligen Ressourcen der Umerziehungs-Subjekte nicht gefördert sondern zugedeckelt werden. Das ist alles schön und gut lesbar beschrieben, selbst wenn man nicht jedem einzelnen Argument und Beispiel beipflichtet. (Ich selbst habe aus der Perspektive der Mitarbeiter den im Buch behandelten Fall der ehemaligen HR-Chefin bei SAP ganz anders erlebt und mein Bedauern mit der Dame hält sich in Grenzen.)

Das Interesse der Autorin gilt eindeutig dem gesellschaftlichen Bereich der Unternehmen, der auch in ihrem Buch viel mehr Platz einnimmt als das eher knapp behandelte Subsystem Schule. Insofern ist die im Titel angedeutete Symmetrie “Frauen in Unternehmen, Jungen in der Schule” etwas irreführend, und wer das Buch hauptsächlich liest, um das Erziehungswesen besser zu verstehen, mag enttäuscht sein.

Für die Behandlung der Situation von Frauen in Unternehmen ist aber die Kontrastierung mit der Welt der Erziehung sehr erhellend, weil sie klar macht, dass sich hier ein – im Habermas’schen Sinne – gesellschaftliches Subsystem zeigt mit einer eigenen Logik. Andere Subsysteme mit wieder jeweils anderen Logiken (Familie, Kirche, Politik, Militär) werden am Rande gestreift.

Da alle diese Subsysteme sich fortlaufend weiterentwickeln, und ausserdem aufeinander ausstrahlen, ergibt sich, dass die Bewertung von “typisch” männlichen und weiblichen Verhaltensmustern in diesen Systemen ebenfalls verändert werden kann. Ein interessantes, und meiner beruflichen Erfahrung in einem globalen Unternehmen nahes Nebenthema des Buches ist auch, dass sich diese Systeme und ihre Wertigkeiten in verschiedenen Kulturen durchaus verschieden darstellen.

Ressourcen freisetzen und Spass haben

Vielleicht ist der Einband des Buches ein wenig vollmundig. “Wie Frauen in Unternehmen endlich aufsteigen” (mit Betonung auf “endlich”) – nein, ein weiterer How-to-Guide ist dieses Buch nicht. Stattdessen ist es ein Plädoyer. Frauen (und Männer) sollen aufhören, sich zugunsten von äusserlich aufgedrückten Normen zu verbiegen. Stattdessen sollen sie Interesse und Respekt zeigen vor der Verschiedenheit anderer Menschen, aber auch vor den in ihnen selbst ruhenden Fähigkeiten. Nicht, weil ein Normsystem das von aussen aufzwingt, sondern weil alles dann mehr Spass macht und die eigenen Ressourcen freisetzt.

Damit steht dieses Buch zu Recht in direktem Zusammenhang mit dem, was unter dem Etikett ökolibertär vor dreissig Jahren in einem kleinen Kreis von Menschen diskutiert wurde – auch ich war einer der Teilnehmer – als wir uns überlegten, wie wir politisches Handeln ableiten können nicht aus dem Geist kollektiver Vorschriften und Verbote (damals dem sozialistische Normensystem, das grosse Teile der Grünen beherrschte), sondern als Angebote, anknüpfend an die Interessen der Menschen. Patentrezepte haben uns nie so interessiert wie die Freisetzung einer Dynamik. Gisela Erler ist sich treu geblieben.

Thomas Meyers “Rechnung über meine Dukaten”

08 Saturday Nov 2014

Posted by hajovonkracht in deutsch

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Buchbesprechung, Rechnung über meine Dukaten, Thomas Meyer


Thomas Meyers “Schickse” hatte ich mit Genuss gelesen – seine Geschichte aus dem orthodox-jüdischen Milieu Zürichs ist authentisch, es hält die richtige Balance zwischen liebevoller Identifikation mit und ironisch-süffisanter Distanz zu Motti, seiner Mame und den anderen Figuren seines Romans.

Nachdem der Autor neulich im Rahmen der Veranstaltung “Zürich liest” aus seinem neuen Werk vortrug und es dann noch sehr freundlich signierte, fing ich mit großen Erwartungen an, im neuen Buch zu schmökern.

Was für eine Enttäuschung.

“Rechnung über meine Dukaten” handelt von dem Spleen Königs Fiedrich Wilhelm I von Preussen (1688-1713), sein Königsregiment mit “langen Kerls” – Soldaten mit mindestens 1.88 Metern Gardemass – auszustatten. Im Zentrum des Buches steht der König, bzw. ein zwangsrekrutierter Sachse namens Gerlach, bzw. die eine oder andere dubiose Gestalt, die als “Werber” im Auftrag des Königs ihr schmutziges Handwerk verrichtet: Es ist wirklich nicht klar, wer eigentlich im Zentrum steht.

Keine dieser Gestalten wird dem Leser wirklich nahe gebracht. Der König tritt auf eher als König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte von Lummerland; hirnlos und tölpelhaft, frönt er seiner Manie mit den “langen Kerls”, für die das Buch keinerlei Erklärung gibt. Der historische “Soldatenkönig“, der sein Land von den Kriegen seiner Zeit fern hielt wo er konnte, das Beamtentum, die Charité, die Schulpflicht einführte und von sich sagte, “die Regenten sind zum Arbeiten geboren, nicht zum faulen Leben”, kommt in dem Buch nicht vor; stattdessen ein Operettenkönig, der sich von jedermann übertölpeln lässt und nur eine traurige Figur ist.

Auch die anderen Figuren bleiben blass und schablonenhaft. Im Übrigen geht es den meisten von ihnen – wie auch der Titel des Buches andeutet – nur um eins: das Geld.

Das Grundproblem des Buches scheint mir, dass die Ironie und Süffisanz, die Thomas Meyer über seine Figuren ausschüttet, sich nur entfalten kann, wenn sie begleitet ist von Sympathie mit ihnen. In der “Schickse” ist ihm das gelungen. In den “Dukaten” nicht. Dehalb ist das Buch auch flach und die Personen kommen über Karikaturen nicht hinaus.

PS. Wer sich wirklich für das Innenleben der Oberschicht im absolutistischen Europa des 18. Jahrhunderts interessiert, sei verwiesen auf “das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ“. Seine Darstellung aus dem Innenleben des Hofes von Ludwig XVII ist spannend, unterhaltsam und erlaubt Einblicke in diese untergegangene Welt, von denen sich in den “Dukaten” leider gar nichts findet.

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