Seit Jahren liegt alle vierzehn Tage eine Gratiszeitung in unserem Briefkasten. Wir haben sie nicht angefordert, und fast immer landet sie ungeöffnet im Altpapier: Die “Höngger Zeitung”. Ganz selten mal ein eiliger Blick auf den einen oder anderen Artikel: neben allerlei Werbung lokaler Kleinkram aus unserem Stadtquartier. Sie fiel kaum auf neben all dem Neu-Altpapier im Briefkasten (vor allem von den zwei Schweizer Supermarkt-Giganten), das unbesehen aber akkurat gebündelt wird, wie es sich in der Schweiz gehört.
Vor ein paar Tagen allerdings war dies anders. Als “Sonderausgabe” trug der “Höngger” den Titel Zukunft und Relevanz der Lokalzeitungen. Das Inhaltsverzeichnis versprach “Nichts Amtliches”, “Keine Meinung”, “Kein Sportgeschehen”. Und viele ansonsten leere graue Kästchen enthielten Texte wie “Hier sehen Sie nicht, wer Ihre Karies bekämpft”, “Hier sehen Sie nicht, wer Ihnen den Haushalt räumt” usw. Beim Durchblättern wurde klar, dass hier ein Verleger die Öffentlichkeit aufrütteln will, weil ihm die Einnahmen und damit die Geschäftsgrundlage wegbrechen. Die lokale Wirtschaft inseriert nicht mehr. Auch die überregionalen Inserenten, die das lokale Publikum in Höngg erreichen wollen, bleiben weg.
Für den 14. Mai lud die Sonderausgabe zu einer Podiumsdiskussion ein (natürlich in Höngg), zu der sich immerhin knapp 300 Leute einfanden (ältere Jahrgänge gut vertreten), denen etwas lag am Schicksal dieses Blattes.
Erstens bin ich beeindruckt von der Frische, der Originalität und der hohen Qualität dieser “Sonderausgabe” (PDF hier), zweitens war auch die Podiumsdiskussion gut besetzt, spannend und informativ. Ich will hier nicht den Verlauf der Diskussion nachzeichnen (darüber berichtet eine Redaktorin des Höngger hier), sondern einige weiterführende Gedanken festhalten.
It’s the Advertisers, Stupid!
Das konventionelle Geschäftsmodell des “schreibenden” Journalismus besteht aus dem Zusammenspiel zweier Akteure: Die Anzeigenabteilung verkauft Anzeigen und sorgt für die Einnahmen, die Redaktion schreibt interessante Texte und sorgt damit für Leser. Platziert werden beide – Anzeigen und Artikel – im Blatt, das dem Verleger gehört. So werden Werbekunden und Leser zueinandergebracht und der Laden läuft (Die Abo-Gebühren spielen dabei eine unterstützende, aber nicht die wesentliche Rolle, und im Fall von Gratisblättern gar keine).
Wie auch die auf dem Podium anwesenden Experten bestätigten, sind die Haupt-Treiber der Zeitungskrise nicht so sehr die Leser, die nach wie vor an den redaktionellen Beiträgen interessiert sind (vielleicht, verwöhnt durch das Internet, weniger bereit, dafür auch zu zahlen), sondern die Werbekunden, die sich von den Print-Medien (auch den online-Ausgaben dieser Print-Medien) abwenden und auf die Internet-Medien (Social Media, Google u.a.) verlagern.
Das kann man bedauern, aber grundsätzlich handelt es sich um rationale kaufmännische Entscheidungen: Mit einer gezielten, personalisierten Internet-Ansprache erhalte ich bessere Resonanz für weniger Geld, und: Ich kann den Erfolg meiner Anzeige wesentlich besser messen und rückverfolgen als im Print-Bereich. Es nützt also gar nichts, den Zeigefinger zu heben und auf den kultur- und demokratietheoretisch bedenklichen Untergang der Print-Medien hinzuweisen. Davon kommt kein Anzeigenkunde zurück.
Stattdessen müssen sich die Verleger überlegen, wie sie entweder ohne Werbung auskommen, oder ihren Werbekunden besseren Wert bieten können (wenn sie nicht einfach mit den Anzeigenpreisen in den Keller gehen wollen).
Der Trick bei den digitalen Medien besteht ja darin, dass beim selben journalistischen Beitrag je nach Leserin unterschiedliche Anzeigen geschaltet werden können. Dadurch wird die Anzeige relevanter für die Leserin, und effizienter für den Werbetreibenden. Es gab schon Experimente mit digitalem Papier, oder mit personalisiert gedruckten Zeitungen, aber das ist alles noch unerschwinglich teuer und Science Fiction. Nichts desto trotz: Den Werbekunden besseren Wert zu bieten ist die Herausforderung. Wenn die Verleger diese nicht meistern, gehen sie unter. So einfach.
Aus zwei mach drei
Ich habe oben gesagt, das konventionelle Geschäftsmodell des Journalismus bestehe aus dem Zusammenspiel zweier Akteure. Das war schon dort nicht ganz richtig: den Verleger und die Zeitung selbst habe ich unterschlagen. Dieses Spiel wird im Internet-Kontext neu aufgemischt: Jetzt sind es wirklich drei Akteure. Die Journalisten, die Werbeabteilungen, und – die Plattform. Dabei besteht zwischen Journalisten und Plattformen eine sehr problematische Beziehung, denn sie sind nicht von diesen entlohnt, und die Plattformen werden zum dominierenden Player überhaupt. Google. Amazon. Facebook.
Bei diesen Plattformen gibt es eine Oligopolbildung, der mich als alten IT-Hasen an die Verdrängung der Hersteller-spezifischen (“proprietary”) Betriebssysteme erinnert. Wer weiss noch von Blackberry, den Betriebssystemen von DEC, IBM und anderen? Die sind heute alle fort, und es gibt weltweit nur noch drei grosse: Android, Windows, Apple (und, um die anderen zu ärgern, Linux).
Viel spricht dafür, dass bei den Informationsplattformen nur ganz wenige Giganten überleben. Die traditionellen Zeitungen sind auch Plattformen, aber sie ähneln eher den “proprietary” Systemen von damals.
Einer der Riesen-Vorteile der wirklich grossen Plattformen für Anzeigen-Kunden besteht darin, dass sie durch ihre riesigen Datenmengen von Milliarden von Nutzern, ihre weit entwickelten Analyse- und Profilierungsverfahren eine Zielgenauigkeit erreichen können, gegen die eine Mini-Plattform mit ein paar zigtausend Lesern nicht ankommt.
Ein Gedankenexperiment
Nicht, dass dies einfach zu machen wäre, oder dass ich überhaupt grosse Verwirklichungschancen sehe. Aber nur mal so gesponnen:
Nehmen wir an, es gäbe eine Online-Plattform (genannt: “Swiss News”). Sie koste im Abo so viel wie der Tagi (oder deine Lieblingszeitung). Alle Artikel des Tagi seien dort lesbar, also 40 Seiten voller Artikel. Durch mein Abo habe ich das Recht, alle 40 Seiten zu lesen.
Aber jetzt kommt der Clou: Auch alle Artikel der NZZ sind auf dieser Plattform. Mein Abo erlaubt mir, auch von dort Artikel zu lesen. Nur: die Gesamtmenge ist auf 40 Seiten begrenzt. Und ja, Freddy Haffner, auch die Höngger Zeitung wäre hier. Und der BUND, und vielleicht gar die Weltwoche.
Die Einnahmen aus meinem Abo gehen natürlich den Redaktionen zu, deren Seiten ich lese. Und wenn mir die 40 Seiten nicht ausreichen, kann ich schmerzfrei mehr Content kaufen, wie Roaming-Daten beim Telefon.
Für Leser wie mich wäre das ideal. Ich könnte mir meine Tageszeitung so zusammenstellen, wie ich das heute möchte, und werde nicht gequält, wenn ich gelegentlich mal einen Artikel einer anderen Zeitung lesen möchte, dass ich nun auch noch diese Zeitung abonnieren soll.
Da es sich um ein digitales Modell handelt, könnten die Anzeigen, die zwischen und neben den Texten stehen, auf mich zugeschnitten sein. Das wäre die Aufgabe der KI-getriebenen Anzeigenverwaltung, die den Inserenten ein attraktives Angebot machen kann. Die Gesamtmenge der Leser von “Swiss News” wäre deutlich grösser als die jeder einzelnen Zeitung.
Die Redaktionen würden ihre Unabhängigkeit erhalten. Es wäre sogar einfacher, für ganz kleine Redaktionen, ebenfalls Artikel zu platzieren, sofern sie sich an bestimmte Qualitätsstandards halten. Und ihre Papierausgaben dürfen die Verleger auch behalten.
Und die Aufgabe des Staates bestünde hauptächlich darin, dafür zu sorgen, dass auf der Plattform fair play herrscht, niemand unbillig behandelt wird und niemand die Plattform missbraucht.
Nur mal so als Idee.
Ach ja, und die “Höngger Zeitung” werde ich in Zukunft mit etwas anderen Augen sehen.