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Kurz vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine publizierte das “Zentrum für die Liberale Moderne” eine Aufsatzsammlung Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt. Schwere Kost. Und doch: absolute Pflichtlektüre, um die jetzigen Geschehnisse vor ihrem historischen Hintergrund verstehen zu können.
Für mich war bei der Lektüre am schmerzhaftesten, zu merken, wie wenig ich von der Geschichte dieses Teils Europas und damit von meiner eigenen Geschichte weiss. Ich nehme ja für mich in Anspruch, politisch bestens informiert und auch über die historischen Zusammenhänge durchaus aufgeklärt zu sein. Und doch muss ich erkennen, dass mein Verständnis dieses Teils der europäischen Geschichte – nicht so sehr ein blinder Fleck, als riesiges schwarzes Loch ist. Das ist besonders bitter, als sich zeigt, dass es für das Verständnis meiner eigenen Geschichte ebenfalls essenziell ist. Und handlungsrelevant.
Wie sehr die Ukraine im Zentrum von Hitlers Kolonisations- und Versklavungspolitik stand, wie zentral auch für Stalins Imperiumsbildung, wie oft, verbissen und mörderisch gegen die Bevölkerung dieses Landes vorgegangen wurde, die Bauern, die Intellektuellen, zuallererst aber die Juden, die Welle auf Welle Vernichtungsorgien über sich ergehen lassen mussten, das ist bei uns – ist auch bei mir – nie so richtig angekommen. Ganz unverständlich ist mir, wieso im kollektiven Bewusstsein der Deutschen die Idee der Kriegsschuld aus dem Zweiten Weltkrieg sich exklusiv auf Russland richtet, und die Ukraine, die deutlich mehr unter dem Wüten der deutschen Unterwerfungspolitik gelitten hat, überhaupt nicht wahrgenommen wird.
Die Ukraine war zentral in der Entwicklung der Vernichtungspolitik Deutschlands gegen die Juden. Wir alle wissen von Auschwitz. Babyn Jar ist schon viel weiter weg. Korjukiwka so gut wie unbekannt, obwohl das die Übungsgelände für den späteren industriellen Massenmord waren.
Schwer vorstellbar aber auch ist, wie sehr die Ukraine unter der Stalin’schen Russifizierungspolitik gelitten hat. Der “Holodomor” – das absichtliche und systematische Aushungern und Verhungernlassen der Menschen in der “Kornkammer” Europas, die systematische Liquidierung ukrainischer Sprache, Kultur und Eigenständigkeit (und auch wieder der Juden) spielt für die Haltung der Ukrainer gegenüber Russland auch heute eine Rolle.
Das Buch Ukraine verstehen ist eine Aufsatzsammlung. Die einzelnen Beiträge eröffnen Einsichten in eine Vielzahl verschiedener Aspekte dieses komplexen Lands mit seiner schwierigen Geschichte. Dabei werden Widersprüche sichtbar. Figuren wie Bandera tauchen auf, der einen ukrainischen Nationalstaat zu einer Zeit anstrebte, als dies – eingeklemmt zwischen Hitler und Stalin – ein Ding der Unmöglichkeit war, der im Übrigen glühender Antisemit war und einen Pakt mit Hitler schloss, und der heute von Putin als ein Kronzeuge angerufen wird, dass die ganze Ukraine ein faschistischer Staat sei.
Und dann – nur als Randbemerkung – gibt es eine in den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts weitgehend verlorengegangene Geschichte deutscher Besiedelung in der Ukraine aus der Zeit der Zaren, von der ich noch nie gehört habe. Einige der Dörfer in der Nähe von Mykolajew haben neben ihrem ukrainischen auch einen alten deutschen Namen und es gibt nach wie vor deutsche Kulturvereine in der Ukraine, die alte Bräuche hoch halten.
Die Schlussfolgerung, die ich aus der Lektüre dieses Buches ziehe, ist, dass es eine ganz falsche Wahrnehmung ist, wenn man glaubt, die Ukraine sei irgendein nicht so wichtiges Land fast schon ausserhalb Europas. Vielmehr stand dieses Land im Zentrum aller Auseinandersetzungen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Und heute, genau heute wird in diesem Land über das Schicksal Europas entschieden.